Im ersten Teil haben wir die Wurzeln des Bluegrass und seine frühen Pioniere beleuchtet. Nun setzen wir unsere Reise fort und widmen uns der spannenden Phase ab dem Folk Revival in den 1960er-Jahren, als Bluegrass ein neues Publikum fand und sich mit anderen Stilrichtungen vermischte. Zudem werfen wir einen Blick auf weitere progressive Strömungen, die das Genre in den folgenden Jahrzehnten modernisierten – ohne dabei seine charakteristischen Elemente zu verlieren.
1960: Höhepunkt des Folk Revival
Die amerikanische Musik der Sixties war durch zwei grundlegende Strömungen geprägt: zum einen nahm der Rock ’n‘ Roll der Fünfzigerjahre zunehmend Fahrt auf, zum anderen erreichte der seit den Vierzigerjahren anhaltende Folk Revival mit Musikern wie Pete Seeger und Woody Guthrie seinen Höhepunkt. Während die Traditionalisten am Ende der Fifties noch mit der Popularität des aufkommenden „Nashville Sound“ von Chet Atkins zu kämpfen hatten, profitierten sie mit Beginn der Sechzigerjahre durch den Boom der US-amerikanischen Volksmusik und das damit einhergehende neu angefachte Interesse der jungen College-Generation für Bluegrass-Musik.

Andere Bluegrass-Gruppierungen machten sich die Trends der Sixties ebenfalls zunutze, indem sie sie in die Spielweise des Bluegrass einfließen ließen. So hoben sich Bands wie die Country Gentlemen von den Traditionalisten ab, indem sie modernere Varianten der Bluegrass-Musik mit Folk-, Rock- und Beat-Elementen spielten. The Dillards spielten beispielsweise Cover-Versionen der Beatles und der Byrds, um dem Genre zusätzliche Popularität zu verleihen und sich neuen Stilrichtungen gegenüber zu öffnen. Zu den progressiven Kräften der Szene zählen ganz klar ikonische Musiker wie der Flatpicker Doc Watson oder die Kentucky Colonels mit dem leider viel zu früh verstorbenen Clarence White an der Gitarre.
1970: New Grass
In den Seventies begannen Bluegrass-Musiker, den Horizont des Bluegrass über die Grenzen des Folk und Country hinaus zu erweitern und mit neuen Sounds zu experimentieren. 1971 gründete der Mandolinenspieler Sam Bush gemeinsam mit Curtis Burch, Courtney Johnson und Ebo Walker die Band New Grass Revival. Die Gruppierung grenzte sich vom bisherigen Mainstream Bluegrass ab und scheute sich nicht davor, Songs von Jerry Lee Lewis, den Beatles oder auch Bob Marley zu spielen. Auch optisch unterschied sich die Band von der ersten Generation des Bluegrass und trug lange Haare und lässige Kleidung auf der Bühne.
Selbstverständlich traf die Neuinterpretation des Genres nicht überall auf Gegenliebe: während einige die neue Experimentierfreude im Bluegrass begrüßten, betrachteten die Traditionalisten den neuen Stil eher als Respektlosigkeit gegenüber Bill Monroes ursprünglicher Idee des Bluegrass. Trotz der Kritik entwickelte sich der neue ‚New Grass‘-Stil unbeirrt weiter. Während sich das erste Line-up der Band noch auf Rock, Jazz und Blues als Inspiration konzentrierte, erweiterte das zweite Line-up um Pat Flynn, John Cowan und den damals blutjungen Banjo-Überflieger Béla Fleck die stilistischen Einflüsse auf Genres wie Irish Folk und Weltmusik aus allen erdenklichen Kulturkreisen.
J. D. Crowe & The New South

Parallel dazu gründete der Banjospieler J. D. Crowe die Band New South, die sich eher am traditionellen Bluegrass orientierte und im Laufe der Siebzigerjahre die wohl bedeutendsten Alben des Genres hervorbrachten. Bis heute gelten Scheiben wie The Kentucky Mountain Boys und Bluegrass Evolution als beliebte Genre-Klassiker. Das absolute Highlight der Diskografie dürfte aber sicherlich das gleichnamige Album J. D. Crowe & The New South von 1975 darstellen – besser bekannt unter seiner Katalognummer „Rounder 0044“. Dieses Album ist ein derart wichtiger Meilenstein in der US-amerikanischen Musikgeschichte, dass sogar die Library of Congress in Washington D.C. es im Jahr 2024 als „kulturell, historisch oder ästhetisch wichtiges Tondokument“ in die National Recording Registry aufnehmen ließ.
David Grismans „Dawg Music“
Der Mandolinenspieler David Grisman kombinierte den Bluegrass mit Einflüssen aus Folk und Jazz und begründete einen ganz eigenen Stil, der als „New Acoustic Music“ oder Davids eigener Bezeichnung zufolge als „Dawg Music“ bekannt wurde. Im Rahmen des David Grisman Quintet trafen hier Musiker wie die Flatpicking-Legende Tony Rice, der bereits auf „Rounder 0044“ spielte, oder der virtuose Fiddler Darol Anger zusammen, um zahlreiche bahnbrechende Alben zu schreiben. Zu den eindrucksvollsten Beispielen und Empfehlungen für Interessierte zählen ganz klar das 1978 Album Hot Dawg oder das drei CDs umfassende Album DGQ-20 aus dem Jahr 1996.
1980 – 1990: Renaissance des Traditional Bluegrass
Neben den progressiveren Strömungen erfuhr der traditionelle Bluegrass, wie er bis in die Sechzigerjahre gespielt wurde, am Anfang der Achtzigerjahre erneuten Aufwind. Bands wie die Tony Rice Unit oder die als Supergroup mit J. D. Crowe gegründete Bluegrass Album Band spielten zwar eher klassisch orientierten Bluegrass, brachten jedoch eine nie zuvor gehörte Energie in ihre Spielweise, die sich durch enormen Drive, ausgedehnte Gitarrensoli und markante rhythmische Spielweisen äußern. Dieser neue Spielstil entwickelte sich letztendlich zum neo-tradionalistischen Stil des Bluegrass und wird unter Bluegrassern häufig als „Mash“ bezeichnet.
Jam Grass
Bluegrass war selbstverständlich auch Teil der Jam Bands der Neunzigerjahre. Als zentrale Schlüsselfigur gilt hier ganz klar niemand Geringeres als Jerry Garcia, der mit seinen Grateful Dead den Titel des „Godfather of Jam Bands“ trägt und auch in Bluegrass-Szene keineswegs ein unbeschriebenes Blatt ist. Als bestes Beispiel sind hier wohl die Pizza Tapes aus dem Jahr 2000 zu nennen, auf denen neben Jerry auch David Grisman und Tony Rice zu hören sind. Ebenfalls auf Bluegrass-Musik konzentrierte sich die 1993 gegründete Band String Cheese Incident, die sich durch ihren lockeren Jam-Charakter mit ausladenden Instrumental-Soli auszeichnet. Als besondere Empfehlung ist noch das der experimentierfreudigen Rockband Phish gewidmete Studioalbum JamGrass: Progressive Bluegrass Jams on a Band Called Phish von 2004 zu nennen, auf dem renommierte Nashville-Musiker wie Johnny Hiland an der Gitarre oder Bryan Landers am Banjo zu hören sind.
2000: Alternative Bluegrass
Der Anfang des neuen Millenniums stand ganz im Zeichen progressiverer Strömungen, die genau wie die New-Grass-Ära der Siebziger und Achtzigerjahre eine Modernisierung des Genres anstrebten. Zu den Vorreitern im neuen Jahrtausend zählten unter anderem die Bluegrass-Band Nickel Creek, die bereits 1989 vom damals achtjährigen Chris Thile an der Mandoline und den nicht viel älteren Geschwistern Sara und Sean Watkins an der Fiddle und der Gitarre gegründet wurde.
Einen stilistischen Wendepunkt innerhalb der Band markierte das 2000 veröffentliche gleichnamige Album Nickel Creek. Das Album entstand unter Mithilfe der talentierten Bluegrass-Fiddlerin Alison Krauss, die nicht nur als Produzentin in Erscheinung trat, sondern auch aktiv an der Entwicklung des progressiveren Stils der Band mithalf. Wie essenziell Alisons Arbeit für die Country-Szene ist, zeigen übrigens ihre sage und schreibe 27 (!) gewonnen Grammy Awards. Dies macht sie zur Künstlerin mit den zweitmeisten Grammy-Auszeichnungen weltweit – direkt hinter R&B-Ikone Beyoncé!

Im Jahr 2006 bildeten sich gleich zwei weitere Bands, die im progressiven Bluegrass-Milieu des 21. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen. So entstanden die Infamous Stringdusters aus dem Umfeld begnadeter Musiker des Berklee College of Music heraus, während Chris Thile mit den Punch Brothers ein gewichtiges Quintett mit großkaliberigen Künstlern aus der Taufe hob.
Wie steht’s um die Zukunft des Bluegrass?
Ein Blick auf die aktuelle Generation zeigt, dass sich der Bluegrass in bester Gesellschaft befindet und sich sogar immer steigender Beliebtheit erfreut. Vor einigen Jahren landeten beispielsweise die Mizzone-Brüder als Sleepy Man Banjo Boys zahlreiche virale Hits und Fernsehauftritte. Ebenso der Saitenüberflieger Billy Strings, der binnen kürzester Zeit mehrere Millionen Views auf YouTube einfährt und wohl ohne Frage zu den populärsten zeitgenössischen Vertretern des Genres zählen. Ebenfalls empfehlenswert ist die 2022 gegründete Supergroup Mighty Poplar, die sich aus dem Umfeld der Punch Brothers gebildet hat und die aktuelle Bluegrass-Elite in Form von Chris Eldridge, Noam Pikelny oder Andrew Marlin als Mitglieder zählt. Wir sind also sehr gespannt, was die Zukunft bringen wird!